Die jüdischen Siedlungen in Singers Das neue Russland: Geschichte einer verlorenen Welt.

Ein Mann fährt mit dem Zug durch die Steppe. Er trägt einen hellgrauen Anzug, wie ein guter alter Europäer aus vergangenen Zeiten. Er versucht nicht einzuschlafen, weil er Angst hat, dass sein Mantel gestohlen wird. Auf seinen Reisen entdeckt und dokumentiert er, wie Juden in der Sowjetunion leben. Wir schreiben das Jahr 1926.

„Nach den grausamen Pogromen und dem Bürgerkrieg in der Ukraine verließen die Juden die verwüsteten Städte und Dörfer und machten sich in Gruppen auf die Suche nach neuem Land. Es war keine einfache Migration. Diese Juden - ehemalige Kaufleute, Zwischenhändler, Handwerker, Wanderlehrer, Fuhrleute, Pächter [...] - investierten das wenige Geld, das ihnen geblieben war, in den Kauf von Pferden und Wagen, packten ihre letzten ärmlichen Habseligkeiten zusammen - zerrissene Bettlaken, Schabbatleuchter, religiöse Bücher oder Flugblätter - und durchquerten traurig und entmutigt die Steppen der Ukraine, um sich auf diesem Land niederzulassen. “

Ein faszinierender Reisebericht von I.J. Singer in The New Russia, der kürzlich von dem italienischen Verlag Adelphi aus dem Englischen übersetzt wurde. Die Welt, die der polnisch-jüdische Journalist vor fast hundert Jahren in seiner Reportage für die jiddischsprachige New Yorker Tageszeitung Forverts beschrieb, gibt es heute nicht mehr. Die UdSSR existiert nicht mehr, sowie auch die zahlreichen aschkenasischen Gemeinden in Osteuropa und Russland, die durch den Holocaust, die stalinistischen Deportationen, die Auswanderung nach Amerika und in das damals schlicht Palästina genannte Gebiet dezimiert wurden. Fast ausgestorben ist auch die jiddische Sprache, die in den Schtetl, den jüdischen Vierteln, gesprochen wurde. Eine Sprache, im Wesentlichen aus dem Deutschen abgeleitet, aber mit semitischen Schriftzeichen geschrieben, wie auch die so genannte Jüdisch-Romanische Sprache (giudaico-romanesco). In seinem autobiographischen Roman Eine Geschichte von Liebe und Finsternis (2002), beschreibt Amos Oz seine Eltern und vermittelt uns einen unvergesslichen Eindruck von dieser deutschen Diaspora in Israel: “Mein Vater konnte sechzehn oder siebzehn Sprachen lesen und elf sprechen (alle mit russischem Akzent). Meine Mutter konnte vier oder fünf Sprachen sprechen und sieben oder acht lesen. Sie sprachen Russisch oder Polnisch, wenn ich nichts verstehen sollte. (Und meistens wollten sie, dass ich nichts verstand. [...] Aus kulturellen Gründen lasen sie hauptsächlich Bücher auf Deutsch oder Englisch, und ihre nächtlichen Träume träumten sie sicher auf Jiddisch. Aber mir wurde nur Hebräisch beigebracht. Vielleicht fürchteten sie, dass die Kenntnis einer Fremdsprache auch mich den Verlockungen des wunderbaren und tödlichen Europas aussetzen würde.”

Doch zurück zu Singer. Sein Bericht ist ein Rückblick in lebendigen Bildern, die das Leben des Volkes Abrahams im Land der Sowjets nach dem Ende des Bürgerkriegs festhalten. Die Reise beginnt in Moskau mit seinem „weiten, riesigen, echt russischen und sagenhaft schönen Roten Platz“ und Minsk, „angeblich eine fröhliche und lebendige Stadt. Sie hat sich den Charme der litauisch-jüdischen Grenzstädte bewahrt“, und weiter geht es auf den Straßen durch die Landschaft, wo es “keine Bäume, keine Sträucher, nur Steppe und noch mehr Steppe” gibt, nach Charkiw, “hart, industriell und unattraktiv”, nach Kiew, “in dieser absurden Stadt habe ich die bittersten und vielleicht auch die schönsten Tage meines Lebens verbracht”, und zu den entlegensten Orten der Krim, die “in Licht und Blumen getaucht” sind. Es ist ein Bericht  aus dem Stegreif, aber dennoch minutiös. Singer beschreibt die Menschen, denen er begegnet: Mitreisende, Kellner, Kutscher, Passanten, Landwirte, Bauern, ältere Juden mit jungen Frauen: „Ich besuchte viele Städte und traf Juden aller Art: Kommunisten und Wohlhabende, Fromme und Ketzer, Kaufleute und Handwerker, Arbeiter und Angestellte. Das Thema, das sie am meisten beschäftigte und über das alle sprachen, war die Frage, was mit der Jugend geschehen sollte.”

 Seine Porträts haben etwas Impressionistisches, ein paar einfache Pinselstriche, die die scharfen Züge einer Person wiedergeben, der man auf der Straße begegnet. In der Beiläufigkeit der Gespräche versucht Singer, Hoffnungen, Sehnsüchte, aber auch Bitterkeit, Enttäuschung, manchmal Verzweiflung der Bewohner des neuen Russlands einzufangen.

Die Erzählung beginnt heiter. Der Zug von Berlin nach Moskau ist angenehm beheizt und voller interessanter Menschen, die sich auf die Reise in die Sowjetunion freuen, um dort Geschäfte zu machen und überhaupt eine neue, vielversprechende Lebensweise kennenzulernen. Im Grunde, die beste aller möglichen Welten. Der Journalist reist nach Warschau und taucht in eine Vielzahl von Sprachen ein: Deutsch, Polnisch, Französisch, Englisch, Russisch. Ein Flair des alten Europa, das sich – wie Elias Canetti sagte -  in seinem ultimativen Massensymbol, dem Zug, wiederfand, vertieft in höfliche Gespräche zwischen Fremden in eleganter Kleidung. Eine Gewohnheit, die R.D. Kaplan die Kaffeekultur nennt in Adriatic: A Concert of Civilizations at the End of the Modern Age (2022).

Die Chronik ist zunächst bewusst im Stil eines Werbespots gehalten. Moskau wird als Phönix aus der Asche beschrieben, in dem die alten Symbole des zaristischen Adlers mit Hammer und Sichel verschmelzen. Mit Schulen und Waisenhäusern in jeder Gasse, mit Berufsschulen für Arbeiterkinder, die nur vor der Nase zugeschlagene Türen kennengelernt hatten, und wo Frauen die gleichen Rechte und den gleichen Lohn haben wie ihre Männer, erscheint die Stadt als ein Ort, an dem nur das Richtige geschieht. Allgegenwärtig sind die Porträts Lenins, die zu segensreichen Ikonen geworden sind und als solche verehrt werden. Moskau und seine Kirchen, deren abendliches Glockengeläut sich mit den Revolutionsliedern der marschierenden Roten Armee mischt. Eine ergreifende Szene, bei der man sich den Schnee auf den Türmen des Kremls vorstellt, den Wind bei dreißig Grad unter Null, alte Frauen mit Rosenkränzen und Eizensteins Filme über die Revolution, um Battiatos Prospettiva Nevski zu zitieren.

Beiläufig, als hätte er es vergessen, beschreibt Singer auch die Kinder, die auf der Straße leben, streunend und von Geschlechtskrankheiten geplagt, die überhöhten Preise, die Ladenbesitzer, die kaum über die Runden kommen und diskriminiert werden, weil sie nicht zum Proletariat gehören und deshalb als fast bürgerlich gelten. Er selbst hatte einige Jahre zuvor, 1921, in Moskau gelebt, zur Zeit des Kriegskommunismus. Die emotionale Tiefe seines Porträts der Stadt verrät einen persönlichen Bezug. Doch die Welt die er vorfindet, unterscheidet sich stark von der Realität die er kannte. Mehrmals gesteht er, dass er seinen Augen nicht traut und sich über die Situation wundert, die sich in kurzer Zeit radikal verändert hat.

Das Thema, das ihn am meisten interessiert, ist natürlich das Judentum und seine Integration in die Gesellschaft. Eine leidenschaftliche Erzählung über den Traum der Emanzipation. Eine bisweilen messianische Hymne auf den Neubeginn. Nach der Oktoberrevolution erhielten die russischen Juden die Staatsbürgerschaft und die Bürgerrechte, die ihnen immer verweigert worden waren. Ähnliches geschah in Italien, als die Juden nach der Einigung die Staatsbürgerschaft erhielten und sich als Italiener fühlten, zumal viele Gemeinden die verschiedenen Bewegungen des Risorgimento aktiv unterstützt hatten. In Russland kamen die Rechte nach den schrecklichen Pogromen der Zarenzeit.

Der Erwerb der Staatsbürgerschaft ermöglichte vielen Juden den Zugang zu Berufen, die ihnen zuvor verwehrt waren, wie Straßenbahnschaffner, Portier, Briefträger, Hilfsarbeiter, Telegrafist. Für andere bedeutete es die Aufgabe der kaufmännischen Tätigkeit in der Stadt und ein neues Leben auf dem Land, als Bauern. Vor allem diesen Neuanfang veranschaulicht Singer.

Sein Zeugnis ist ein wertvoller Einblick in eine verlorene Welt, die durch seine Augen für uns Leser wieder lebendig wird. Das geschieht als er die vielen jiddischen Einrichtungen beschreibt, die er in Moskau vorfand: Verlage, Klubs, Universitätsfakultäten, Kurse und sogar ein Theater. Alles Dinge, die es vor der Revolution nicht gegeben hatte. Greifbare Zeichen der neu gewonnenen gesellschaftlichen Stellung. Stolz berichtet er, wie in Minsk das belarussische Kulturinstitut ein wissenschaftliches jiddisches Wörterbuch zusammenstellte. Oder wenn er erzählt, dass in den schmutzigen Gassen von Minsk „große Ideen und Schmuggel, Feigheit und Leichtsinn, Frömmigkeit und Ketzerei, Bescheidenheit und Ausschweifung, Altes und Neues Schulter an Schulter leben, und diese Mischung ist voller Kraft, Unruhe und Hoffnung“. Es ist das Bild eines Schtetls - vom deutschen “Städtlein” - einer kleinen, armen und von Religiosität durchdrungenen Siedlung, die normalerweise einem großen Fisch der Gemeinschaft gehörte. Eine untergegangene Realität in Osteuropa. Einige Schtetl überleben heute in den Haredim-Gemeinden in den Vereinigten Staaten, insbesondere im Staat New York (Kyrias Joel, New Square und Kaser).

Ebenso eindringlich ist das Bild des jüdischen Gerichts, das Singer in Minsk besuchte: eine gewöhnliche Wohnung, in der der Gerichtstisch mit einem roten Tuch bedeckt ist und das Porträt Lenins einen Ehrenplatz einnimmt. Die Fälle werden auf Jiddisch verhandelt, der Richter ist ein ehemaliger Landarbeiter, die Anwälte sprechen halb Jiddisch, halb Russisch. Singer geht sogar so weit, die Fleischstücke zu beschreiben, die vor der Wohnungstür an der Wand hingen, damit das Blut abtropfen konnte und sie koscher wurden.

Das Gebiet, das Singer abdeckt, ist riesig. Je weiter er nach Süden kommt, desto mehr verändert sich die jüdische Integration. Die Hauptstadt der Ukraine war damals Charkiw, das Singer auf Russisch Charkow nennt. Obwohl es dort mehrere jiddische Zeitungen gab, sprachen Juden und Ukrainer lieber Russisch. Tausende Juden arbeiteten in den Fabriken der Stadt. Sie schickten ihre Kinder nicht auf jiddische Schulen, sondern zogen Russisch als Muttersprache vor. Die Kinder verstanden jedoch kein Wort von dem, was in der Schule gesprochen wurde.

Singer erzählt auch, wie die Einbürgerung viele Juden dazu gebracht hat, ihre traditionelle Kleidung abzulegen. Als der Reporter zum Kaddisch in die Synagoge geht, stellt er erstaunt fest, dass niemand mehr eine richtige Kippa trägt, sondern Fahrradkappen, Woll- und Pelzmützen. Ähnlich sieht es auf dem Land aus, wo die Bauern rote Pelzmäntel und Stiefel tragen wie die Goj, die Nichtjuden. Eine Beziehung zwischen Juden und Nichtjuden, alt, schwierig, ungelöst, immer von gegenseitigem Misstrauen durchdrungen. Wie durch einen Riss schildert uns Singer ein Urbild davon: „Wie in alten Zeiten nähern sich die Juden schweigend den Wagen der Bauern, den Geldbeutel fest umklammert, Stroh kauend. Wie früher gehen die Bauern und Bäuerinnen, die armen weißrussischen Bauern, mit schweren Schritten umher und tasten an den jüdischen Ständen nach Waren, wie die Juden nach ihren Getreidesäcken tasten. Es scheint, dass Juden und Nichtjuden sich auf dieses große Tasten beschränken - niemand kauft etwas“.

Jetzt, im neuen Russland, geben sich die Aschkenasim säkular und mischen sich unter die Nichtjuden. In den Kolonien gehen sie sogar so weit, englische Schweine zu züchten und - wie schrecklich! - ihr Fleisch zu essen. Auf den Feldern, beim Besuch der jüdischen Siedlungen, wird die Geschichte ergreifend und noch einmal persönlich. Die Hauptrolle bei der Kolonisierung Sowjetrusslands spielten die Juden selbst, erzählt Singer. Sie flohen vor dem ukrainischen Bürgerkrieg und den Pogromen auf der Suche nach neuem Land.

Sie verließen die Städte und Dörfer und wurden Bauern. Anfangs lebten sie in Zelten. Die ersten Jahre waren hart in diesem unbebauten Land, wo es keinen einzigen Baum gab und alles von Grund auf neu geschaffen werden musste. Aber sie bauten Wagen, die sie mit Schabbatdecken auslegten, und schleppten Bretter und Stangen, die sie von weit her kauften, um ihre Häuser zu bauen. Sie wussten nicht, wie man Pferde anspannt oder zügelt, geschweige denn, wie man Pflüge oder Spaten bedient. Unterstützt von internationalen Organisationen wie dem Joint Distribution Committee, dem Gezerd, der jüdischen Sektion der Kommunistischen Partei, und anderen kleineren Organisationen besserte sich die Lage langsam. Singer berichtet noch von den roten Ziegeldächern der jüdischen Dörfer, die sich so sehr von den Strohdächern der russischen Bauernhöfe unterschieden, von der Gastfreundschaft der Siedler, die sich über Neuigkeiten aus der Welt freuten, und von ihren Häusern, die endlich einen Schornstein hatten.

Der Korrespondent reist kreuz und quer durch die Steppe. Mit dem Zug, mit dem Auto, sogar mit den Wagen der Siedler. Er besucht Dörfer und Kolchosen, in denen Juden in mehreren Familien leben, aber auch solche, in denen die jungen Leute nicht heiraten, weil sie hoffen, eines Tages ins Heilige Land auswandern zu können. Jeder Bauernhof wird beschrieben, ob gut oder schlecht, so wie jeder Jude Singer begegnet. Es sind Geschichten der Erlösung, der melancholischen Verlassenheit und des schweren Abschieds, in denen man zwischen den Zeilen spürt, wie stolz Singer auf seine Mitbrüder ist, auf ihre harte Arbeit und ihre Leistungen.

Unzählige Eindrücke verflechten sich in diesem großartigen Bericht aus vergangenen Zeiten. Man fragt sich, was aus all diesen Menschen geworden ist. Ob sie emigrieren konnten, ob sie noch Jiddisch sprechen, ob sie die Deportationen der Nazis und später der Stalinisten überlebt haben. Und viele der Regionen, die Singer besucht hat, sind dieselben, in denen heute Krieg herrscht. Die Gegenwart zerstört die Vergangenheit oder, was vielleicht wahrscheinlicher ist, sie wiederholt sie. Alte Geschichte. In diesem Fall handelt es sich um russische Geschichte, die seit mindestens 150 Jahren unbestreitbar mit der europäischen Geschichte verwoben ist.

Als einstiges Rückgrat der europäischen Gesellschaft wurde die jüdische Präsenz im Osten des Kontinents ausgelöscht, und ihr Fehlen hindert uns heute daran, die kulturelle Identität Europas vollständig zu verstehen. Es ist eine Tatsache, dass die Seele Mitteleuropas in der Vergangenheit - um mit Claudio Magris in Danubio (1986) zu sprechen - auf einer totalen Verschmelzung der jüdischen und der deutschen Kultur beruhte. Die Shoah hat die jiddische Lebensart in diesem Teil der Welt zerstört, und heute ist nur noch die Erinnerung oder, wie Magris sagt, eine bestimmte Vorstellung von Mitteleuropa übrig geblieben. Ich würde diesen Begriff auf ganz Europa ausweiten.

Ich erinnere mich an Hanna Arendt, die aus Königsberg stammte, bzw. nach der Annexion durch die Sowjetunion 1946 aus, Kaliningrad. 1933 floh Arendt aus Deutschland zunächst nach Paris, dann nach Lissabon und schließlich in die USA. Ihre engsten Freunde und die Denker, die sie inspirierten, blieben ihr Leben lang Deutsche. Jan Brokken erzählt in Baltische Ziele (2010), dass das einzige Buch aus der Bibliothek ihres Vaters, das sie nach New York begleitete, die Erstausgabe von Zum ewigen Frieden ihres Landsmanns Immanuel Kant war. Für Arendt war der "gute alte Kant" Königsberg. Mit anderen Worten: ihre Heimat. Auch von Arendts Geburtsstadt ist heute kaum noch etwas zu sehen. Ein weiterer kostbarer Schatz europäischer Kultur, den die Geschichte zerstört hat und von dem nur noch ein Echo in der Ferne zu hören ist. So wie die Italiener in Istrien, deren Erinnerung in der engen, fast elterlichen Beziehung zur slowenischen Gemeinschaft weiterlebt.

Das Erbe der europäischen Reiche bis hin zur österreichisch-ungarischen Monarchie besteht gerade in der oft tragischen Koexistenz unterschiedlicher Sprachen, Religionen und Lebensweisen. Eine Vielfalt, die zu grausamen und langwierigen Kriegen geführt hat, aber auch zu einem beispiellosen Geflecht von Weltanschauungen. Auf dieser Mischung beruht seit Jahrhunderten das soziale und kulturelle Gefüge Europas. Ich denke an Philippe Daverio, der einmal in einer Fernsehsendung sagte, dass er als guter Europäer mindestens fünf Sprachen spreche.

Europa scheint heute nach souveränen und identitären Illusionen zu streben oder, um noch einmal R. Kaplan zu zitieren, nach monoethnischen Gesellschaften. Dies ist weit entfernt von dem Geist des alten Kontinents, der immer auf der eklektischen Kombination von Elementen unterschiedlichster Art beruhte. Nationalismen, die einzelne ethnische Zugehörigkeiten verherrlichen, sind nichts anderes als abstrakte, am Schreibtisch entwickelte Gebilde. Sie sind unvollständige, um nicht zu sagen schamlose Erzählungen der Wirklichkeit, die die Geschichte bewusst ignorieren. Sie dienen vor allem dazu, den Kontinent in eine Richtung zu lenken, die seiner natürlichen Tendenz diametral entgegengesetzt ist. Eine Richtung, die Europa in der Vergangenheit nur Teile und Einfluss gekostet hat. Nichts deutet darauf hin, dass es in der Gegenwart anders sein wird. "Wir miauen im Dunkeln", sagt Quelo. Verlorene Welten, wie die jiddischen Gemeinschaften, die Ostpreußen, die Italiener in Istrien und Dalmatien, um nur einige zu nennen, sind ein wichtiger Teil unserer Geschichte als Bürger dieses Kontinents. Sie zu kennen hilft uns, besser zu verstehen, wer wir sind und in welche Richtung wir uns bewegen - oder auch nicht.

Originalversion auf der italienischen Online-Zeitschrift Minima&Moralia:

Le colonie ebraiche ne La Nuova Russia di Singer: storia di un mondo perduto | minima&moralia (minimaetmoralia.it)

Englishe version:

The Jewish colonies in Singer's The New Russia: History of a Lost World. (hiddengemswithcathy.com)

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